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Ralf Schuricht: Taratalla. Latein Grammatik, 2009 <www.taratalla.de>.

4.4 Nominalformen des Verbs

4.4.2 Participium coniunctum

Partizipien als Verbaladjektive kombinieren Eigenschaften von Adjektiven und Verben.
Gemeinsamkeiten
mit Adjektiven
a) Partizipien sind deklinierbar und können alle drei Geschlechter annehmen (scrīptus, a, um).
b) Partizipien können in jedem Kasus als Ergänzung zu anderen Nomina gebraucht werden (epistulam scrīptam, in epistulā scrīptā).
c) Sie können substantiviert werden und die entsprechenden Funktionen von Substantiven im Satz ausfüllen (in tuīs scrīptīs – in deinen Schriften).
Gemeinsamkeiten
mit Verben
a) Partizipien sind aktiv (scrībēns, scrīptūrus) oder passiv (scrīptus).
b) Die in Partizipien enthaltene Handlung ist nicht zeitlos gültig. Sie ist entweder schon geschehen (scrīptus – geschrieben), dauert noch an (scrībēns – schreibend) oder ist erst für die nachfolgende Zeit beabsichtigt (scrīptūrus – schreiben wollend).
c) Partizipien können Objekte oder adverbiale Ergänzungen bei sich haben (puer epistulam dīligenter scrībēns – der den Brief sorgfälig schreibende Junge).
Dadurch, dass Partizipien also "Anteil haben" (partem capere) sowohl an den Eigenschaften von Adjektiven als auch an denen von Verben, bieten sie die Möglichkeit, eine Nebenhandlung in verkürzter Form in einen Satz einzubauen. Wird diese Nebenhandlung dabei an ein schon vorhandenes Satzteil "angebunden" (cōniūnctum), spricht man von einem participium cōniūnctum. Schweben dagegen Partizip und Beziehungswort im Ablativ stehend frei im Satz, spricht man von einem ablātīvus absolūtus.
Neben den satzwertigen participia cōniūncta gibt es noch andere Möglichkeiten Partizipien im Satz zu verwenden. Aus Gründen der Systematik und Vollständigkeit unterscheidet die folgende Gesamtübersicht einerseits zwischen prädikativem, attributivem und adverbialem Gebrauch von Partizipien, andererseits zwischen adjektivischen, substantivierten und satzwertigen Partizipien. In der Praxis sind die jeweiligen Grenzen fließend. Für die alltägliche Übersetzungsarbeit ist vor allem die Kenntnis der verschiedenen Übersetzungsvarianten wichtig.
Verwendung
Übersetzungsmöglichkeiten
prädikativ
In Verbindung mit esse, seltener auch mit habēre kann man mit Partizipien Prädikate oder Infinitive bilden:
amātus sum – ich bin geliebt worden
amāns sum – ich liebe ständig / ich bin verliebt
amātūrus sum – ich bin bereit zu lieben
eum cognitum habeō – ich habe ihn kennengelernt / ich kenne ihn gut.
Nach Verben der sinnlichen Wahrnehmung, seltener auch nach Verben des Darstellens kann eine Partizipialkonstruktion einen aci ersetzen. Eine solche Konstruktion wird acp genannt (accūsātīvus cum participio):
Marcum epistulam scrībentem videō. – Ich sehe Marcus einen Brief schreiben.
(als aci: Marcum epistulam scrībere videō.)
Homērus Polyphēmum cum ariete colloquentem facit. – Homer stellt Polyphem dar, wie er sich mit seinem Widder unterhält.
attributiv
Attributive Verwendung heißt, dass die im Partizip enthaltene Zusatzinformation zur genaueren Beschreibung des Beziehungswortes dient, ansonsten aber inhaltlich unabhängig von der übergeordneten Handlung ist.
Rein adjektivisch verwendete Partizipien, also ohne jegliche Ergänzung durch Objekt oder Adverbialbestimmung, werden gewöhnlich nicht zu den participia cōniūncta gezählt. Die Grenze ist aber fließend, da man auch solche Partizipien satzwertig, nämlich mit einem Relativsatz übersetzen kann. Gewöhnlich genügt aber die Wiedergabe mit deutschem Partizip:
Hortum pulchrum arbōrēsque flōrentes spectāvit. – Er betrachtete den schönen Garten und die blühenden Bäume / die Bäume, die blühten.
Bei substantivierten Partizipien fehlt zwar das Beziehungswort, aber das Partizip bleibt zumindest an eine Funktion im Satz "angebunden" und richtet sich im Kasus nach dieser Funktion. Im Deutschen können wir die Substantivierung des Partizips leicht nachmachen.
Hīc conveniunt amantes. – Hier treffen sich die Liebenden / die Verliebten / diejenigen, die verliebt sind.
Werden Partizipien mit Objekten oder Adverbialbestimmungen angereichert, entsteht eine satzwertige Partizipialkonstruktion. Je mehr Ergänzungen hinzugefügt werden, desto umständlicher klingt eine Übersetzung mit deutschem Partizip. Bei attributiver Verwendung weicht man dann gewöhnlich auf einen Relativsatz aus.
Bsp: M. Catō vir ab omnibus laudātus mortuus est.
a) deutsches Partizip:
Marcus Cato, ein von allen gelobter Mann, ist gestorben.
b) Relativsatz:
Marcus Cato , ein Mann, der von allen gelobt worden ist, ist gestorben.
In vielen Fällen ist eine saubere Abgrenzung zwischen attributivem und adverbialem Gebrauch nicht möglich.
adverbial
Adverbiale Partizipialkonstruktion stellen inhaltlich eine adverbiale Bestimmung zur übergeordneten Handlung dar. Das adverbiale Sinnverhältnis kann temporal, kausal, konzessiv, konditional oder modal sein, muss aber gewöhnlich aus dem Kontext erschlossen werden. Im folgenden Beispiel signalisiert die Partikel "tamen" eine konzessive Sinnnrichtung.
Bsp: Tuus liber ab omnibus laudātus tamen mihī nōn placet.
a) deutsches Partizip:
Dein von allen gelobtes Buch gefällt mir dennoch nicht.
(Obwohl) von allen gelobt, gefällt mir dein Buch dennoch nicht.
b) Relativsatz
Dein Buch, das von allen gelobt worden ist, gefällt mir dennoch nicht.
c) konjunktionaler Nebensatz:
Obwohl dein Buch von allen gelobt worden ist, gefällt es mir dennoch nicht.
d) Beiordnung:
Dein Buch ist zwar von allen gelobt worden, doch mir gefällt es nicht.
e) präpositionaler Ausdruck:
Trotz des allgemeinen Lobes auf dein Buch gefällt es mir dennoch nicht.
f) Gelegentlich kann es auch sinnvoll sein, die substantivierte Handlung zum Subjekt oder Objekt des Satzes zu machen:
Das allgemeine Lob auf dein Buch gefällt mir nicht.
Dass Dein Buch von allen gelobt worden ist, gefällt mir nicht.
Bezieht sich ein Part. Futur Aktiv auf das handelnde Subjekt, ist das Sinnverhältnis meistens final:
Carmina scrīptūrus stilum capiō. – Ich greife zum Stift um Gedichte zu schreiben.
Verneinte Partizipien lassen sich gut mit "ohne zu" oder "ohne dass" übersetzen:
Marcus amīcōs nōn exspectāns tabernam intrāvit. – Ohne auf die Freunde zu warten betrat Marcus die Kneipe.
Die Partizipien der Deponentien haben normalerweise in allen drei Zeitstufen aktive Bedeutung, also auch im Partizip Perfekt:
Marcus Rōmā profectus rīdet. – Nachdem Marcus aus Rom aufgebrochen ist, lacht er.
Marcus Rōmā proficīscēns rīdet. – Während Marcus aus Rom aufbricht, lacht er.
Marcus Rōmā profectūrus rīdet. – Bereit aus Rom aufzubrechen, lacht Marcus.
Recht selten und dann auch nur auf Sachen bezogen findet man das Partizip Perfekt von transitiven Deponentien mit passiver Bedeutung:
Prope iam adeptam victōriam retinēre cupit. – Er wollte den schon fast erlangten Sieg aufhalten. (passiv)
aber:
Victōriam adeptus Rōmam rediit. – Nachdem er den Sieg erlangt hatte, kehrte er nach Rom zurück. (aktiv)
Partizipien beinhalten keine feste Zeit, sondern kennzeichnen ein bestimmtes Zeitverhältnisse zur übergeordneten Handlung.
Partizip
Zeitverhältnis
Part. Perfekt
Das Partizip Perfekt drückt gewöhnlich die Vorzeitigkeit zur übergeordneten Handlung aus, d.h. dass die im Partizip enthaltene Handlung zum Zeitpunkt der übergeordneten Handlung vollendet und abgeschlossen ist. Bei der Übersetzung als deutscher Nebensatz ist die Wahl des richtigen deutschen Tempus zu beachten.
Medicum a Caesare missum laudāvit / laudat / laudābit. – Den von Caesar geschickten Arzt lobte er / lobt er / wird er loben.
aber:
Er lobte den Arzt, den Caesar geschickt hatte.
Er lobt den Arzt, den Caesar geschickt hat.
Er wird den Arzt loben, den Caesar geschickt haben wird / geschickt hat / schicken wird.
Will man beim letzten Beispiel das im Deutschen schwerfällige Futur II durch ein anderes Tempus ersetzen, muss das Zeitverhältnis zur Gegenwart des Sprechers mitbeachtet werden. Vorzeitigkeit zu einer zukünftigen Handlung kann nämlich bedeuten, dass die im Partizip enthaltene Handlung entweder schon geschehen ist (Perfekt) oder erst noch geschehen wird (Futur I).
Da es kein Partizip Passiv der Gleichzeitigkeit gibt, wird gelegentlich das Paritizip Perfekt als solches verwendet, vor allem bei Deponentien (z.B. rātus – glaubend, ūsus – gebrauchend) und einigen zu zeitlosen Adjektiven erstarrten Partizipien (z.B. contemptus – verächtlich). Das passive bzw. reflexive Element im Partizip Perfekt ist insgesamt wichtiger als das Zeitverhältnis.
Part. Präsens
Das Partizip Präsens drückt die Gleichzeitigkeit zur übergeordneten Handlung aus. Die im Partizip enthaltene Handlung darf zwar vor der übergeordneten begonnen haben, muss aber während der übergeordneten Handlung noch andauern. Bei der Übersetzung als deutscher Nebensatz ist wieder die Wahl des richtigen deutschen Tempus zu beachten.
Per silvam currēns cecidit / cadit / cadet. – Durch den Wald laufend fiel er hin / fällt er hin / wird er hinfallen.
aber:
Während er durch den Wald lief, fiel er hin.
Während er durch den Wald läuft, fällt er hin.
Während er durch den Wald laufen wird, wird er hinfallen.
Part. Futur
Das Partizip Futur drückt die Nachzeitigkeit zur übergeordneten Handlung aus. Dabei geht es meistens weniger um die Vorhersage eines nachfolgenden Ereignisses, sondern eher um die Angabe einer Absicht, die mit der übergordneten Handlung verbunden ist.
Vir nōs līberātūrus adfuit / adest / aderit. – Der Mann war da / ist da / wird da sein, um uns zu befreien.
aber:
Der Mann, der uns befreien wollte, war da.
Der Mann, der uns befreien will, ist da.
Der Mann, der uns befreien will (oder: der uns wird befreien wollen), wird da sein.
Oder als Vorhersage:
Der Mann, der uns befreien würde, war da.
Der Mann, der uns befreien wird, ist da.
Der Mann, der uns befreien wird, wird da sein.
4.4.1 Inf., aci, nci 4.4.3 Abl. absolutus 4.4.4 Gerundium 4.4.5 Gerundivum 4.4.6 Supinum I und II
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