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Ralf Schuricht: Taratalla. Latein Grammatik, 2009 <www.taratalla.de>.

3.1 Bestandteile des Verbs

3.1.1 Tempusstämme

Präsensstamm
Mit dem Präsensstamm werden sowohl die aktiven als auch die passiven (!) Formen des Präsens, des Imperfekts und des Futur I gebildet, ferner der Infinitiv, das Partizip Präsens, das Gerundium und das Gerundivum.
Die Entstehung und Herausbildung der Präsensstämme erfolgte gewöhnlich durch Hinzufügung verschiedener Suffixe zu den sinntragenden Wurzeln (z.B. pax, pac-is – Frieden, pac-ā-re – Frieden machen, befrieden; tim-or – Furcht, tim-ē-re – fürchten). Zu einem Teil dieser Suffixe gehörte auch der sogenannte Themavokal (mit e/o-Abtönung). Den Abschluss bildeten daher zumeist die Personalendung der thematischen Konjugation. Verben mit athematischen Formen im Indikativ Präsens wie est, vult oder fert zählen wir deshalb zu den unregelmäßigen Verben.
Doch auch bei den thematischen Konjugationen blieb der Themavokal nur dort durchgehend sichtbar, wo kein vokalisches Suffix voranging. Diese meist langvokalischen Suffixe verschluckten die kurzen Themavokale und bildeten schließlich die Ausgänge, nach denen wir heute die verschiedenen Konjugationsklassen unterscheiden.
[1.] ā-Konj.
z.B. amā-re, laudā-re, aber auch da-re mit kurzem -a-, da dieses kein Suffix ist, sondern zur Wurzel gehört
[2.] ē-Konj.
z.B. monē-re, timē-re
[3.] ĭ-Konj. und
      kons. Konj.
z.B. cape-re (1. Sg. capi-ō), face-re (faci-ō)
z.B. ag-e-re (1. Sg. ag-ō), leg-e-re (leg-ō)
Die kurzvokalische ĭ-Konj. und die konsonantische Konjugation werden vor allem in Wörterbüchern traditionell noch als dritte Konjugation zusammengefasst. Denn die Präsensstämme der kons. Konjugation lauten strenggenommen eben nicht auf einen Konsonanten aus, sondern auf den kurzen Themavokal. Der war ursprünglich e/o, wurde in Mittel- und Endsilben aber zu i/u abgeschwächt (außer vor -r-; daher leg-e-re und leg-e-ris, aber leg-i-t und leg-u-nt). Dadurch ergab sich eine große Ähnlichkeit zu den Formen der kurzvokalischen ĭ-Konj., die eigentlich eher mit der langvokalischen ī-Konj. verwandt ist, sich aber ihrerseits vor -r- an die kons. Konj. anglich (daher cape-re und cape-ris, aber capi-ō, capi-s und capi-u-nt). In manchen Grammatiken wird die kurzvokalische ĭ-Konj. deshalb auch als "gemischte Konjugation" bezeichnet.
[4.] ī-Konj.
z.B. audī-re, fīnī-re
Perfektstamm
Mit dem Perfektstamm werden alle aktiven Formen des Perfekts, des Plusquamperfekts und des Futur II gebildet.
Da das lateinische Perfekt aus der Verschmelzung zweier älterer Tempora, nämlich des Aorists und des eigentlichen Perfekts, entstanden ist, gibt es zahlreiche Möglichkeiten zur Bildung des lat. Perfektstammes.
v- und u-Perfekt
regelmäßige Perfektstammbildung für die meisten Verben der langvokalischen Konj.;
dabei ist das halbvokalische v-Suffix nach -ā- und -ī- zu konsonantischem -v- geworden, während es mit -ē- zu vokalischem -ū- verschmolz und wegen der folgenden Vokale zu -u- gekürzt wurde:
z.B. amāv-ī (amāre – lieben), laudāv-ī (laudāre – loben),
audīv-ī (audīre – hören), fīnīv-ī (fīnīre – beenden),
monu-ī (monēre – ermahnen), timu-ī (timēre – fürchten);
auch im v-Perfekt wird das -v- umgangssprachlich oft ausgestoßen, die verbleibenden Vokale werden kontrahiert: z.B. audīstī statt audīvistī oder laudārim statt laudāverim.
s-Perfekt
z.B. māns-ī (manēre – bleiben), scrīps-ī (scrībere – schreiben);
Dentalschwund vor -s-: mīs-ī (mittere – schicken), rīs-ī (rīdēre – lachen);
Gutural plus -s- wurde zu -x-: dīx-ī (dīcere – sagen), aux-ī (augere – vergrößern), trāx-ī (trahere – ziehen), vīx-ī (vīvere – leben);
-rs- wurde über -ss- zu -s- : haus-ī (haurīre – schöpfen)
Dehnungsperfekt
z.B. vēn-ī (venīre – kommen), vīd-ī (vidēre – sehen), ēg-ī (agere – treiben);
gedehnt wurde also der Wurzelvokal; die Nasalinfixe mancher Präsensstämme entfielen:
vīc-ī (vincere – siegen), relīqu-ī (relinquere – verlassen)
Reduplikations-
perfekt
z.B. ce-cid-ī (Präs. cadere – fallen), pe-pul-ī (pellere – schlagen), cu-curr-ī (currere – laufen),
mo-mord-ī (mordēre – beißen);
regulär also mit -e- in der Reduplikationssilbe, oft aber mit Angleichung an den Wurzelvokal; bei Komposita ist die Reduplikationssilbe meistens ganz abgefallen oder zumindest das -e- ausgestoßen:
con-currī (con-currere – zusammenlaufen), re-ppul-ī (re-pellere – zurückschlagen)
Stammperfekt /
unverändertes Perf.
Im Endergebnis zeigt sich der Perfektstamm gegenüber dem Präsensstamm unverändert, doch meistens liegen ursprünglich andere Formen der Perfektstammbildung zugrunde:
z.B. Schwund von -v- nach -v-/-u-: lāv-ī (lavāre – waschen), metu-ī (metuere – fürchten);
Schwund von Reduplikationssilben: dēfend-ī (dēfendere – verteidigen).
Perf. mit Stammwechsel
Der Perfektstamm wird mit einem völlig anderen Stamm gebildet als der Präsensstamm:
fu-ī (esse – sein), ähnlich ja auch im Dt. oder Engl.: er ist / war, he is / was
tul-ī (ferre – tragen); eigentlich ein altes Reduplikationsperfekt tetul-ī von tollere (aufheben, wegbringen)
Supinstamm
Ergänzt mit den Endungen der ā/o-Deklination ist der Supinstamm vor allem bekannt als Partizip Perfekt Passiv, mit dem man alle passiven Formen des Perfekts, des Plusquamperfekts und des Futur II bildet.
Mit dem Supinstamm werden aber auch das Partizip Futur Aktiv und die als Supina bezeichneten Verbalsubstantive gebildet.
Gebildet wird der Supinstamm, indem der Präsensstamm mit -t- oder -s- erweitert wird. Hinzu kommen beim Partizip Perfekt Passiv die Ausgänge der ā/o-Deklination.
-tus, a, um
die häufigere Form der Bildung des Supinstammes:
z.B. amātus (amāre – lieben), audītus (audīre – hören);
in der ē-Konj. mit Abschwächung d. vorausgehenden Vokals: monitus (monēre - ermahnen);
oft auch gänzlicher Schwund des vorausgehenden Vokals: doctus (docēre – lehren), dīctus (dīcere – sagen), ventus (venīre – kommen)
-sus, a, um
die seltenere Form der Supinstammbildung, ursprünglich aus -dt-, -tt- oder -rs- entstanden:
respōnsus (respondēre – antworten), missus (mittere – schicken), hausus (haurīre – schöpfen); dann auch auf die Supinstammbildung anderer Verben übertragen:
mānsus (manēre – warten), pulsus (pellere – schlagen), fīxus (fīgere – anheften)
© 2009 R. Schuricht <www.taratalla.de>