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Ralf Schuricht: Taratalla. Latein Grammatik, 2009 <www.taratalla.de>.

4.4 Nominalformen des Verbs

4.4.3 Ablativus absolutus

Beim Ablativus absolutus handelt es sich um eine grammatikalisch "losgelöste" (= absolute) Partizipialkonstruktion im Satz. Das Partizip wird dabei an ein Nomen im Ablativ angebunden, das ohne dieses Partizip keine Funktion im Satz hätte. Nomen und Partizip zusammen haben jedoch eine Funktion im Satz, und zwar die einer adverbialen Bestimmung. Das Sinnverhältnis kann temporal, kausal, konzessiv, konditional oder modal sein. Die meisten Ablativi absoluti stehen am Satzanfang, sie können jedoch auch am Satzende oder mitten im Satz stehen.
Da es diese Konstruktion im Deutschen nur in einigen wenigen Redewendungen gibt (siehe unten), ist eine wörtliche Übersetzung mit deutschem Partizip im Allgmeinen nicht möglich. Auch die Übersetzung mit Relativsatz scheidet aus, da das Beziehungswort für sich allein keine Funktion im Satz hat. Es verbleiben also nur die folgenden Übersetzungsmöglichkeiten:
a) konjunktionaler Nebensatz,
b) präpositionaler Ausdruck und
c) Beiordnung.
Möglichkeiten zur Bildung eines Ablativus absolutus
Nomen &
Partizip
Die meisten Ablativi absoluti bestehen einerseits aus einem Substantiv, Eigennamen oder Pronomen, andererseits aus einem Partizip Perfekt Passiv oder Partizip Präsens Aktiv. Das Partizip Futur Aktiv ist im Ablativus absolutus nicht üblich, kommt nachklassisch aber vereinzelt vor. Bei intransitiven Deponentien ist das Partizip Perfekt im Ablativus absolutus zwar weit verbreitet, bei transitiven Deponentien wird es dagegen eher gemieden.
Portā apertā intrāvī. – Nachdem die Tür geöffnet (worden) war, trat ich ein.
Mē dormiente Paula labōrat. – Während ich schlafe, arbeitet Paula.
Lūce ortā labōrāre incipit. – Nachdem die Sonne aufgegangen ist, beginnt er zu arbeiten.
eher selten:
nec Etrūscīs nisī cōgerentur pūgnam inītūrīs ... – und da die Etrusker nicht bereit waren, den
Kampf zu beginnen, sofern sie nicht dazu gezwungen würden, ...
Rēge haec locūtō omnēs tacuērunt. – Nachdem der König dies gesagt hatte, schwiegen alle.
Die vorzeitigen, passiven Konstruktionen lassen sich im Deutschen oft besser im Aktiv wiedergeben. Umgkehrt kann bei transitiven Deponentien gelegentlich auch eine Umwandlung ins Passiv sinnvoll sein. Verneinte Aussagen lassen sich oft mit "ohne zu" oder "ohne dass" übersetzen:
Quibus audītīs Marcus respondet. – Nachdem er diese Dinge gehört hat, antwortet er.
Amīcīs sequentibus Paula in forum it. – Gefolgt von ihren Freunden geht Paula aufs Forum.
Paula Rōmae fuit mē nōn vīsitātō. – Paula war in Rom, ohne mich zu besuchen.
Nomen &
Verbaladjektiv
Anstelle eines Partizips kann auch ein prädikatives Verbaladjektiv stehen, z.B.:
Rōmulō vīvō (= vīvente) – zu Lebzeiten des Romulus
Caesare mortuō – nach dem Tod Caesars
parentibus invītīs – gegen den Willen der Eltern
caelō serēnō – bei heiterem Himmel / bei gutem Wetter
Paulā īnsciā – ohne Wissen von Paula
Nomen &
Verbalsubstantiv
Anstelle eines Partizips kann auch ein prädikatives Verbalsubstantiv stehen. Beliebt sind vor allem Datierungsangaben, die aus Namen plus Herrschaftsamt bestehen. In republikanischer Zeit wurde in Rom nach den beiden amtierenden Konsuln des Jahres datiert:
Rōmulō rēge (= rēgente) – unter der Herrschaft von Romulus
Nerōne prīncipe – unter dem Kaiser / Princeps Nero
Nerōne imperātōre – unter dem Kaiser Nero
M. Tulliō Cicerōne C. Antōniō Hybridā cōnsulibus – im Jahr, als Marcus Tullius Cicero und
Gaius Antonius Hybrida Konsuln waren [= 63 v.Chr.]
mē dūce (= dūcente) – unter meiner Führung
Pompēiō auctōre – auf Veranlassung von Pompeius
senātū auctōre – mit der Zustimmung des Senats
deō teste – mit Gott als Zeugen
Partizip mit
anderen
Ergänzungen
In nachklassischer Zeit findet man anstelle eines Nomens gelegentlich auch einen Relativsatz oder einen aci:
audītīs, quī aderant – nachdem die Anwesenden gehört worden waren
nuntiātō Nerōnem adventum esse – nachdem man gemeldet hatte, Nero sei angekommen
Partizip ohne
Ergänzung
Noch seltener sind Ablativi absoluti, die nur aus dem substantivierten Neutrum eines Partizips bestehen oder bei denen das Beziehungswort aus dem vorhergehenden Satz ergänzt werden muss:
auspicātō – nach der Vogelschau
Multī poētae aderant. Audītīs ... – Es waren viele Dichter anwesend. Nachdem diese gehört worden waren, ...
Gerundiv-
konstruktion im
modalen Ablativ
Eine Gerundivkonstruktion im modalen Ablativ entspricht zwar im formalen Aufbau einem Ablativus absolutus, der mit einem Partizip Passiv der Gleichzeitigkeit konstruiert wird. Dennoch wird diese Konstruktion von den Grammatikern offiziell nicht zu den Ablativi absoluti gezählt. Die Nähe zu den übrigen, nicht absoluten Gerundiva im Ablativ (instrumental oder mit Anbindung durch Präpositionen) ist zu groß.
Meō nōmine recitandō applausum est. – Bei der Nennung meines Namens wurde Beifall geklatscht.
Nūllīs librīs legendīs bibliothēca frequentissimē adītur. – Die Bibliothek wird sehr oft besucht, ohne dass dabei irgendwelche Bücher gelesen werden.
aber auch:
Librīs legendīs ... – Durch das Lesen von Büchern ... (Instrumentaler Ablativ!)
In librīs legendīs ... – Beim Lesen von Büchern ...
Ex librīs legendīs ... – Aufgrund der Lektüre von Büchern ...
Absolute Konstruktionen gibt es nicht nur im Lateinischen, sondern auch in anderen Sprachen. Im Deutschen haben sich Reste solcher Konstruktionen in einigen Redewendungen erhalten, zum Teil als absolute Genetive (z.B. "unverrichteter Dinge", "stehenden Fußes" oder "eilenden Schrittes"), zum Teil als absolute Akkusative (z.B. "niemanden ausgenommen"). Hinzu kommen weitere zusammengesetze Ausdrücke wie z.B. "normalerweise", die wir heute als Adverbien klassifizieren, eigentlich aber absolute Genetivkonstruktionen darstellen.
4.4.1 Inf., aci, nci 4.4.2 Part. coniunctum 4.4.4 Gerundium 4.4.5 Gerundivum 4.4.6 Supinum I und II
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