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Ralf Schuricht: Taratalla. Latein Grammatik, 2009 <www.taratalla.de>.

4.2 Kasusfunktionen

4.2.1 Genetiv

Der Genetiv bezeichnet in seiner Grundfunktion die Zugehörigkeit einer Person, Sache oder Handlung zu etwas bzw. zu jemandem. Er steht bei Substantiven, Adjektiven, Pronomina und Verben, gelegentlich auch bei Adverbien. Er wird meist attributiv gebraucht, gelegentlich aber auch prädikativ, als Objekt oder als adverbiale Bestimmung.
In Verbindung mit Sachen oder Personen werden folgende Funktionen differenziert:
gen. possessīvus
Zur Angabe von Besitz oder Zugehörigkeit:
domus patris meī – das Haus meines Vaters
flūmina Germāniae – die Flüsse Germaniens
Auch als Prädikatsnomen mit esse:
Domus patris meī est. – Das Haus gehört meinem Vater.
In übertragener Bedeutung in Verbindung mit unpersönlichen Ausdrücken wie est, vidētur, putātur etc.:
Stabula pūrgāre servōrum est. – Die Ställe zu reinigen ist Aufgabe/Sache der Sklaven.
In rēbus adversīs adesse amīcitiae putātur. – Im Unglück beizustehen wird für ein Zeichen von Freundschaft gehalten.
Der Genetiv der Personalpronomina wird ersetzt durch das Possessivum:
domus mea – mein Haus
Meum est vōs linguam Latīnam docēre. – Mein Aufgabe ist es euch Latein beizubringen.
gen. partītīvus
Bei Mengenangaben zur Angabe des Ganzen zu einer Teilmenge:
māgnus numerus navium – eine große Anzahl von Schiffen
illa pars populī – jener Teil des Volkes
decem modiī frūmentī – zehn Scheffel Getreide
Oft in Verbindung mit Indefinita oder anderen Pronomina, sofern diese im Nom. oder Akk. (ohne Präp.) stehen:
plūs pecūniae – mehr Geld
nēmō hominum – kein Mensch
quid novī? – Was gibt es Neues?
Seltener in Verbindung mit Ortsadverbien wie in einigen formelhaften Wendungen:
ubī terrārum? – wo in aller Welt?
quō gentium? – wohin in aller Welt?
Oft nach Superlativen (bzw. nach Komparativen, wenn die Gesamtmenge Zwei ist):
maximus fīliōrum – der älteste Sohn (d.h. von insgesamt mehr als zwei Söhnen)
māior fīliōrum – der ältere Sohn (d.h. von insgesamt nur zwei Söhnen)
gen. quālitātis
Zur Angabe einer Eigenschaft. Diese steht jedoch nie allein, sondern immer in Verbindung mit einem Attribut:
puella māgnae pulchritūdinis – ein Mädchen von großer Schönheit
magister exiguae doctrīnae – ein Lehrer von geringer Gelehrsamkeit
Auch als Prädikatsnomen mit esse:
Puella māgnae pulchritūdinis est. – Das Mädchen ist von großer Schönheit.
Bei körperlichen oder geistigen Eigenschaften kann auch der Ablativus qualitatis stehen.
gen. dēfīnītīvus
Als Inhaltliche Konkretisierung zu einem allgemeineren Begriff:
virtūs iūstitiae – die Tugend der Gerechtigkeit
nōmen rēgis accipere – den Titel "König" annehmen
Mihī nōmen Marcī est. – Ich heiße Marcus.
In Verbindung mit Handlungen kommen weitere Funktionen hinzu:
gen. subiectīvus &
gen. obiectīvus
Bei Verbalsubstantiven kann der Genetiv entweder das Subjekt oder das Objekt einer Handlung bezeichnen:
amor matris – die Liebe der Mutter (Mutter als Subjekt der Handlung)
amor matris – die Liebe zur Mutter (Mutter als Objekt der Handlung)
Bei Pronomina ist der Unterschied leichter zu erkennen. Als Subjectivus fungiert das Possessivum, als Objectivus der Genetiv des Personalpronomens:
amor meus (tuus, noster, vester, suus) – meine (deine, unsere, eure, seine) Liebe
amor meī (tuī, nostrī, vestrī, suī) – die Liebe zu mir (dir, uns, euch, sich selbst)
gen. pretiī
Als allgemeine und relative Wertangabe; vor allem bei Verben der Wertschätzung und des Wertseins:
(aliquid) magnī aestimāre – (etwas) sehr schätzen
plūrimī valēre – den größten Einfluss haben
nihilī esse – nichts wert sein
Auch nach Verben des Kaufens, Verkaufens, Mietens etc. nur bei vergleichenden und fragenden Angaben:
plūris vendere – teurer verkaufen
tantīdem condūcere – für den selben Preis mieten
quantī cōnstat? – Wie viel kostet es?
Bei konkreten Preis- und Wertangaben steht dagegen der Ablativus pretii.
Genetiv als
Objekt von Verben
Bei Verben des Erinnerns und Vergessens:
illīus rēī meminisse – jener Sachen gedenken / sich an jene Sache erinnern
māiōrum oblīvīscī – die Vorfahren vergessen (vgl. das dt. "Vergissmeinnicht")
Auch bei den entsprechenden Substantiven und Adjektiven:
memoria meritōrum tuōrum – die Erinnerung an deine Verdienste
(im)memor meritōrum tuōrum – (un)eingedenk deiner Verdienste
In der Gerichtssprache zur Bezeichung des Gegenstandes der Verhandlung:
(aliquem) fūrtī arguere – (jemanden) des Diebstahls bezichtigen
(aliquem) parricīdiī absolvere – (jemanden) von der Anklage des Vatermordes freisprechen
(aliquem) facinoris convincere – (jemanden) einer Untat überführen
Seltener zur Bezeichnung der Strafe, insbesondere aber der Todesstrafe:
(aliquem) capitis damnāre – (jemanden) zum Tode verurteilen
Bei unpersönlichen Ausdrücken der Empfindung wie piget, pudet, paenitet, taedet, miseret steht die empfindende Person im Akkusativ, das Empfundene im Genetiv:
nōs huius librī piget – wir ärgern uns über dieses Buch
istīus facinoris tē pudeat – für diese Untat solltest du dich schämen
mē taedet vītae meae – es verdrießt mich meines Lebens, mein Leben ekelt mich an
mē paenitet peccatōrum meōrum – ich bereue meine Sünden
mē vestrī miseret – ihr tut mir leid, ich bemitleide euch
Bei den unpersönlichen Ausdrücken interest und rēfert steht die Person, in deren Interesse etwas liegt, im Genetiv. Personalpronomina werden allerdings durch Possessiva im Abl. Sg. fem. ersetzt (passend zur rē):
Caesaris interest – es liegt im Interesse Caesars
omnium hominum rēfert – es ist für alle Menschen wichtig
aber:
meā interest – es liegt in meinem Interesse
vestrā rēfert – es ist für euch wichtig
Genetiv bei
Präpositionen
Der lateinische Genetiv hat keine echten Präpositionen bei sich. Aus den kausalen Ablativen der Substantive causa (Grund) und grātia (Dank) haben sich jedoch die Partikeln causā (wegen, um ... willen) und grātiā (dank, wegen) entwickelt. Da sie stets nachgestellt werden, müsste man eigentlich von Postpositionen sprechen:
meritōrum tuōrum causā – deiner Verdienste wegen
meritōrum tuōrum grātiā – dank deiner Verdienste
4.2.2 Dativ 4.2.3 Akkusativ 4.2.4 Ablativ 4.2.5 Vokativ
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