Der Indikativ als Modus der Wirklichkeit
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wirkliches
Geschehen |
Der Indikativ drückt das wirkliche oder zumindest als wirklich empfundene Geschehen
aus, und zwar in allen drei Zeitstufen (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft).
scrībēbam / scrīpsī / scrīpseram – ich schrieb / habe geschrieben / hatte geschrieben
scrībō – ich schreibe scrībam – ich werde schreiben Letzteres ist keine Selbstverständlichkeit, da auch indikativische Aussagen über
die Zunkunft eher Prognosen und Absichtserklärungen sind. Im Lateinischen stehen sich daher Indikativ Futur
und Konjunktiv Präsens sehr nahe. In der 1. Pers. Sg. wurde der Bedeutungsunterschied sogar als so gering
empfunden, dass sich das Konjunktivsuffix -ā- auch im ē-Futur durchgesetzt hat:
scrībam – ich will schreiben / ich werde schreiben
Auch das umschreibende Futur mit dem Partizip Futur Aktiv drückt weniger eine
zukünftige reale Handlung aus als vielmehr eine gegenwärtig reale Bereitschaft:
scrīptūrus sum – ich bin bereit zu schreiben
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beinahe
Geschehenes |
Auch bei vergangenen und gegenwärtigen Handlungen gibt es eine sprachliche Grauzone
zwischen wirklichem und unwirklichem Geschehen, vor allem wenn etwas zwar nicht wirklich geschehen ist, aber
beinahe geschehen wäre oder hätte geschehen können. In solchen Fällen sieht der Lateiner
mehr das wirkliche Vorhandensein dieser Möglicheit und verwendet den Indikativ, während wir im
Deutschen den irrealen Konjunktiv verwenden:
Paene tibī scrīpsī, sed ... – Beinahe hätte ich dir geschreiben, aber ...
Nōn multum āfuit, quīn dīcerem ... – Es hätte nicht viel gefehlt und ich hätte gesagt ... Domum īre melius est / (erat / fuit). – Es wäre besser (gewesen) nach Hause zu gehen. Ähnlich verhält es sich bei einigen verneinten Redewendungen, mit denen ein
wirkliches Geschehen als unerwartet beurteilt wird. Der Lateiner stellt im Indikativ fest, dass er dieses Ereignis
nicht erwartet hat, während wir diesen Gedanken als irreale Hypothese formulieren:
Numquam putāvī mē haec vidēre. – Ich hätte niemals geglaubt, dies zu sehen.
Hoc nōn spērābam. – Das hätte ich nicht erwartet. |
Der Imperativ als Modus des Befehls
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Imperativ I
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Der Imperativ I richtet sich an die 2. Pers. Singular oder Plural und drückt eigentlich aus,
dass der oder die Angesprochenen eine Handlung hier und jetzt sofort erledigen sollen.
Hīc Rhodus. Hīc saltā! – Hier ist Rhodus. Hier springe!
Narrāte mihī, quid acciderit! – Erzählt mir, was geschehen ist! Sequere hunc virum! – Folge diesem Mann! Eine Verneinung des Imperativs I wird gewöhnlich gemieden (wenn, dann mit nē). Als
verneinter Imperativ dient der prohibitive Konjunktiv oder die Umschreibung mit nōlī / nōlīte
plus Infinitiv. Siehe auch Kapitel 4.5.2.
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Imperativ II
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Der Imperativ II verweist mehr in die Zukunft und wird daher auch Imperativ Futur genannt.
Die Anweisung ist von nun an für die Zukunft gültig, oft sogar allgemeingültig,
sodass sich das Suffix -tō sowohl an die 2. als auch an die 3. Pers. Singular richten kann. Die Plural- und
Passivformen sind erst durch spätere Analogiebildungen zu den sonstigen Personalendungen entstanden.
Man findet den Imperativ II vor allem in Gesetzes- und Vertragstexten. Vor allem in der Dichtersprache (z.B. in Ovids Lehrgedicht ars amatoria) werden Imperativ I und II aus Gründen der Variatio ohne Bedeutungsunterschied nebeneinander verwendet. Sī quid acciderit, scrībitō – Sollte etwas geschehen, dann schreib!
Mementō morī – Bedenke (immer), dass du sterblich bist! Nī pācunt, in comitiō aut in forō ante merīdiem caussam cōiciunto. – Wenn sie sich nicht einigen sollen sie die Sache vormittags auf dem Komitium oder Forum verhandeln. (XII-Tafel-Gesetz) Der Imperativ II kann mit nē verneint werden:
Hominem mortuum in urbe nē sepelītō nēve ūritō. – Einen
Verstorbenen darf man innerhalb der Stadt weder beerdigen noch verbrennen. (XII-Tafel-Gesetz)
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Funktionen des Konjunktivs im Hauptsatz
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Wunsch und
Aufforderung (Optativus u. Voluntativus) |
Wünsche, Bitten und Aufforderungen haben gemeinsam, dass
der Sprecher etwas will. Der Unterschied liegt in der Einschätzung seiner Einflussmöglichkeiten.
Betrachtet der Sprecher seine Einflussmöglichkeiten als gering oder will er sie als höfliche Geste
gegenüber einer anderen Person als gering erscheinen lassen, formuliert er seinen Willen als Wunsch.
Hat er dagegen den höheren Rang und will ausdrücken, dass er die Realisierung seines Willens
unbedingt erwartet, formuliert er ihn als Aufforderung. Im Deutschen verwenden wir unterschiedliche
Modalverben, um solche Feinheiten zum Ausdruck zu bringen (mögen vs. sollen).
Optativ: Bitten und erfüllbare Wünsche der Gegenwart werden im Konjunktiv
Präsens, solche der Vergangenheit im Konjunktiv Perfekt ausgedrückt. Als Signal, dass es sich um einen
Wunsch und keine Aufforderung handelt, wird oft das Wunschpartikel utinam oder velim / nōlim / mālim
an den Satzanfang gestellt:
Deus nōbis adsit! – Möge Gott uns beistehen!
Velim / nōlim crās adveniās! – Mögest du morgen (nicht) ankommen! Utinam nē haec fēceris! – Mögest du dies nicht getan haben! Iussiv: Aufforderung an die 3. Pers. Singular oder Plural im Konjunktiv Präsens,
im Altlateinischen, in der Umgangssprache und in der Dichtung auch an die 2. Pers. Singular:
Fēriae serventur! – Die Feiertage sind einzuhalten!
Magister exemplō suō incitat. – Der Lehrer soll durch sein Vorbild anspornen! Discipulī nē arma gerant! – Schüler sollen keine Waffen tragen. Cautus sīs, mī amīce! – Sei vorsichtig, mein Freund!
Prohibitiv: Aufforderung an die 2. Pers. Singular und Plural, im klassischen Latein
fast nur noch im Konjunktiv Perfekt, aber mit präsentischer Bedeutung; vorklassisch auch oft im Konj.
Präsens:
Hoc nē dīxeris nēve scrīpseris! – Sag und schreibe das nicht!
Nūllum hostem timueritis! – Fürchtet keinen Feind! Nē conturbātus sīs! – Lass dich nicht verwirren! Adhortativ: Aufforderung an die 1. Pers. Pl. im Konjunktiv Präsens:
Lūdāmus! – Lass / lasst uns spielen!
Nē id faciāmus! – Lass / lasst uns das nicht tun! Deliberativ / Dubitativ: Frageform des Adhortativus. Nachdenkliche bzw. zweifelnde Frage
an die 1. Pers. Singular oder Plural, was man gegenwärtig tun soll (im Konjunktiv Präsens) oder was man
in der Vergangeheit hätte tun sollen (im Konj. Imperfekt). Die Verneinung ist nōn:
Quō currām! – Wohin soll ich laufen?
Cūr id nōn facerēmus? – Warum hätten wir das nicht tun sollen? Konzessiv: Einräumung oder Zugeständnis eines gegenwärtigen Geschehens
im Konjunktiv Präsens oder eines vergangenen Geschehens im Konjunktiv Perfekt. Oft steht das Prädikat
am Satzanfang und wird mit sānē (immerhin, meinetwegen) unterstützt. Die Verneinung ist nē:
Sint haec sānē falsa, ... – Mögen diese Dinge von mir aus auch falsch sein, ... Nē necāverit, innocēns nōn est. – Er mag nicht getötet haben, unschuldig ist er gewiss nicht. |
Möglichkeit
(Potentialis) |
Der Potentialis drückt die Vorstellung von einem
möglichen Geschehen aus. Oft wird er auch aus reiner Höflichkeit verwendet, um gewagte oder unangenehme
Aussagen abzuschwächen. In der deutschen Übersetzung kann man den Grad der Möglichkeit abgestuft
wiedergeben durch verschiedene Modalverben wie können und dürfen sowie durch diverse Partikel wie kaum,
vielleicht, wohl oder gewiss.
Der Potentialis der Gegenwart steht im Konjunktiv Präsens oder im Konjunktiv
Perfekt (mit präsentischer bzw. zeitloser Bedeutung). Gebräuchlich ist vor allem die 1. Pers. Singular.
Die 2. Pers. Singular ist oft unpersönlich, und auch die 3. Pers. Sg. hat oft ein unbestimmtes Subjekt:
Id tibī dīcere nōlim! – Das möchte ich dir lieber nicht sagen.
Exīstimāverim ... – Ich darf doch wohl annehmen, dass ... Nōs amīcōs esse crēdās. – Man könnte glauben, wir seien Freunde. Quis tibī crēdat? – Wer dürfte dir wohl glauben? Der Potentialis der Vergangenheit steht im Konjunktiv Imperfekt, häufig in der
unpersönlichen 2. Person Singular:
Id vērum esse crēderēs. – Man hätte glauben können, dass es wahr ist.
Hoc facere vīx audērētis. – Das hättet ihr wohl kaum zu tun gewagt. Quis tē cantāre nōndum audīret. – Wer dürfte dich noch nicht singen gehört haben? |
Unwirklichkeit
(Irrealis) |
Irreale Aussagen beinhalten Vorstellungen von Geschehnissen, die aufgrund einer nicht
gegebenen Bedingung nicht real sind. Man findet solche Aussagen daher am häufigsten in Bedingunsgefügen.
Irreale Vorstellungen, die sich auf die Gegenwart oder Zukunft beziehen, stehen im Konjunktiv Imperfekt, solche
der Vergangenheit im Konjunktiv Plusquamperfekt. Die Verneinung ist nōn:
Quid sine tē facerem? – Was würde ich bloß ohne dich tun?
Nisī plueret, nōn domī lūderem. – Wenn es nicht regnete, würde ich nicht im Haus spielen. Quid sine tē fēcissem? – Was hätte ich bloß ohne dich getan?
Nisī pluvisset, nōn domī lūsissem. – Wenn es nicht geregnet hätte, hätte ich nicht im H. gespielt. Unerfüllbare Wünsche der Gegenwart werden im Konjunktiv Imperfekt, solche der
Vergangenheit im Konjunktiv Plusquamperfekt ausgedrückt. Sie werden immer mit utinam oder vellem / nōllem /
māllem eingeleitet. Die Verneinung ist stets nē:
Utinam (nē) mē nunc vidērēs! – Könntest du mich doch jetzt (nicht) sehen!
Vellem / nōllem nunc adessēs! – Ich wünschte, du wärest jetzt (nicht) zugegen! Māllem (nē) haec fēcissēs! – Mir wäre lieber, du hättest dies (nicht) getan! |